Wenn das Gesicht zur Maske wird

Die Theater-AG des Kurfürst-Balduin Gymnasiums in Münstermaifeld begeistert mit Siegfried Lenz’ Das Gesicht.

„Am Gesicht alleine lässt sich der Mensch nicht erkennen.“ Diese Aussage stand am 4. und 5. April 2025 im Zentrum der eindrucksvollen Inszenierung von Siegfried Lenz’ Drama Das Gesicht, das die Theater-AG des Kurfürst-Balduin-Gymnasiums auf der Bühne der Stadthalle Münstermaifeld zur Aufführung brachte. Mit großer Spielfreude und beklemmender Intensität zeigte das Ensemble, wie ein totalitärer Staat einen gewöhnlichen Friseur in ein gefährliches Machtspiel verwickelt – und ihn beinahe vollständig verschlingt. Das im Jahr 1964 erschienene Drama hat nichts von seiner Brisanz verloren. Das Gesicht handelt von politischer Verführbarkeit, Identitätsverlust und der beängstigenden Nähe zwischen Anpassung und Machtmissbrauch – Themen, die vor dem Hintergrund autoritärer Tendenzen und weltweiter Krisen heute aktueller erscheinen denn je.

Das Stück spielt in einem namenlosen Staat, der von Kontrolle, Misstrauen und repressiver Ordnung geprägt ist. Im Mittelpunkt steht Bruno Deutz (Felix Tetzlaff), ein unscheinbarer Friseur, der ein eintöniges und unglückliches Leben führt. Seine Ehe mit Hannah Deutz (Annabelle Kollig) ist lieblos und kühl – geprägt vom gemeinsamen Schweigen mit ihrer Bediensteten Jutta (Maren Wenzel) und einer Vergangenheit, die unausgesprochen zwischen den Eheleuten liegt. Denn Hannah war einst mit Josef Kuhn (Ole Leonard), einem regimekritischen Aktivisten, verlobt. Josef wurde verhaftet, Bruno hingegen konnte fliehen. Hannah gibt ihm die Schuld an Josefs Inhaftierung – eine alte Wunde, die nun wieder aufreißt. Gleich zu Beginn der Aufführung wird deutlich: Bruno sieht dem Präsidenten des Landes (Leo Tetzlaff) zum Verwechseln ähnlich. Darauf weist ihn seine Kundin Petra (Lena Reinhardt) hin – eine Beobachtung, die schnell folgenreich wird. Der Präsident und seine Sicherheitsbeamten (Jannis Bäumler, Ina Henneberger und Tawan Kampa) nehmen Kontakt auf. Bruno soll als Doppelgänger bei einer öffentlichen Parade auftreten, offiziell aus Sicherheitsgründen, da ein Attentat befürchtet wird. Bruno willigt widerwillig ein, weil seine Vergangenheit dem Staat bekannt ist und er damit erpressbar ist. Obwohl er heutzutage längst ein angepasstes Leben führt, lastet eine Schuld auf ihm: In seiner Jugend war Bruno Teil einer regimekritischen Untergrundgruppe. Während sein Freund Josef damals verhaftet wurde und lange Jahre im Gefängnis saß, konnte Bruno fliehen und lebt seither zurückgezogen und unauffällig.

Während der Parade – multimedial durch einen vorab von Elias Tetzlaff gedrehten Videoeinspieler inszeniert – stellt sein Verteidigungsminister (Julia Janzen) Bruno allerlei Ausrüstung für seine Sicherheit vor. Bruno wird wider Erwarten kein Opfer eines Anschlags, sondern im Anschluss an die Parade zunehmend in das Zentrum der Macht hineingezogen. Nebenbei erfährt das Publikum, dass auch Hannah und Josef als Publikum an der Parade teilnehmen und zwischen Hanna und Josef flammt die alte Liebe wieder auf, was Bruno zusätzlich unter Druck setzt. Zudem trifft Bruno als Präsident während der Parade auf Frau Faber (Ella Reinhardt), die Mutter des früheren Präsidenten, und begnadigt diesen willentlich, da Frau Faber ihn anfleht. Dies stößt auf Empören beim wirklichen Präsidenten, weshalb dieser eine Audienz mit Bruno Deutz fordert – das erste Zusammentreffen der zwillingsgleichen Männer erfolgt. Bei diesem Treffen erfolgt die Einstellung Brunos als „Mitarbeiter“ des Präsidenten, welcher immer mehr Aufgaben, Pressekonferenzen und politische Agenda in der Rolle des Präsidenten wahrnehmen soll. Das Schauspiel scheint perfekt, da noch nichtmal des Präsidenten Mutter (Emily Schon) die beiden auf den ersten Blick auseinanderhalten kann. Doch dann der Eklat: Ein Schuss fällt, der Präsident stürzt – vermeintlich tot. Bruno wird in Sicherheit gebracht. Von nun an hält ihn jeder für den vermeintlichen Präsidenten. Jeder denkt, dass er der Präsident ist und im Gegenzug der Friseur erschossen wurde – die wahre Maskerade als neuer Präsident des Staates fängt an und auch Bruno beginnt, Gefallen an der Macht zu finden. Vom schüchternen, unsicheren Mann entwickelt er sich zu jemandem, der Macht ausübt – und dies zunehmend genießt. Er beginnt, Befehle zu geben, sich zu inszenieren, politische Entscheidungen zu treffen und diese bei Oppermann (Lara Schulz), seinem Staatsdiener, zu veranlassen. Er lauscht Vorträgen von Professor Schwind (Feli Welter) und wird zum Symbol des Systems, das er einst selbst ablehnte. In erschreckender Konsequenz lässt er sogar seine eigene Mutter Katharina Deutz (Klara Becker) abführen, obwohl sie angeklagt ist – ein Akt völliger Selbstverleugnung. Auch die Tochter des Präsidenten, Frederike (Luisa Kollig), erkennt nicht, dass vor ihr ein Fremder steht. Ihre kritische Haltung wird ihm gefährlich, und Bruno sorgt dafür, dass sie verschwindet. Zudem verändert sich seine Beziehung zu Hannah, da Josef ihr und ihren Freundinnen Maria und Elisabeth (Felicitas Krechel und Merle Scheunert) eröffnet, dass Bruno nicht für seine Inhaftierung verantwortlich war. Doch der Wandel ihres Mannes ist längst nicht mehr rückgängig zu machen.

In einer letzten Wendung wird das Publikum kalt erwischt: Der Präsident hat seinen Tod nur vorgetäuscht. Bruno wurde benutzt – um zu testen, ob das System auch ohne sein „wahres Gesicht“ funktionieren würde. In der dramatischen Schlussszene verschwimmen die Grenzen zwischen Maskerade und Realität: Bruno ist nun fest davon überzeugt, dass er nun Präsident ist und kann nicht mehr zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Erst als sowohl seine Wachposten (Alisa Knaudt, Katharina Hellkamp und Elly Laux) nicht vor ihm, sondern vor dem wahren Präsidenten salutieren, und auch Oppermann sich auf die Seite des Präsidenten stellt wird deutlich, dass das Regime am Ende triumphiert. Der echte Präsident kehrt zurück, Bruno wird fallen gelassen – und das System bleibt unerschüttert. Bruno Deutz bleibt Teil des totalitären Systems und erhält dafür  ironischerweise sogar eine Auszeichnung des Präsidenten. Die letzte Szene zeigt den wahren Präsidenten und wie dieser auf der Suche nach einem weiteren „Gesicht“ ist, welches er für seine totalitären Zwecke instrumentalisieren kann. Das Stück endet offen, mit der düsteren Andeutung, dass das System durch solche Mechanismen Menschen vollständig vereinnahmen und formen kann. Die Maschinerie dreht sich weiter. 

Dass das Stück bereits 1964 erschienen ist, lässt angesichts seiner Themen kaum vermuten: Machtmissbrauch, politische Anpassung, das Spiel mit Identitäten – Das Gesicht ist erschreckend aktuell in einer Zeit, in der autoritäre Führungsstile weltweit wieder Aufwind erleben. Die Inszenierung der Theater-AG zeigte dies auf beklemmende Weise. In Das Gesicht wird Bruno Deutz nicht als Mensch, sondern als reine Oberfläche, als Aussehen, als „Kopie“ des Präsidenten benutzt. Sein Gesicht – das ihn als Individuum kennzeichnet – wird vom Regime funktionalisiert. Es wird ihm quasi geraubt und durch eine Maske ersetzt: die Maske des Präsidenten, die er tragen muss, um in dessen Rolle zu schlüpfen. Eine Maske verbirgt das Eigene und lässt etwas anderes hervortreten – genau das passiert mit Bruno. Je länger er diese „Maske“ trägt, desto mehr verliert er sich selbst. Er beginnt, sich mit der Rolle zu identifizieren, wird zum Machthaber, handelt schließlich sogar gegen seine eigenen Überzeugungen. Mit dieser düsteren Erkenntnis schloss ein Theaterabend, der das Publikum spürbar erschüttert zurückließ. Die Inszenierung der Theater-AG traf einen Nerv – gerade weil das Stück von 1964 ist und doch wie ein Kommentar auf unsere Gegenwart wirkt. Machtmissbrauch, Identitätsverlust, politische Verführbarkeit:Das Gesicht ist aktueller denn je. 

Unter tosendem Applaus erloschen die Scheinwerfer auf der Bühne und die Schauspielenden traten einzeln auf die Bühne und erhielten ihren verdienten Beifall. Eine Standing Ovation gab es als Felix und Leo Tetzlaff als Hauptrollen auf die Bühne trafen und sich unter Jubel und Pfiffen verbeugten. Ein besonderer Dank gilt dem Regisseur Stefan Kliemt, welcher mit sicherem Gespür für Bühne und Wirkung durch das Stück führte und in monatelanger Arbeit außerhalb der Unterrichtszeit mit den Schülerinnen und Schülern geprobt hat. Auch die Licht- und Tontechnik (Ben Schenk, Klara Spies, Silas Knöllinger und Ole Leonard) sorgten für eine spürbare Atmosphäre – besonders die Lichtwechsel und gezielt eingesetzten Sounds verliehen der Inszenierung Authentizität. Das Schminkteam angeleitet durch die Schauspielenden selbst und Franziska Daeges sowie Essen und Getränke der Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 12 trugen entscheidend zum Gelingen dieser Theaterabende bei. All diesen Beteiligten dankte auch Schulleiterin Christiane Hofmann, welche außerdem die pädagogische Signifikanz des Theaterspielens in der Schule hervorhebt und dem gesamten Ensemble gebührend applaudierte. Auch verabschiedeten die Schülerinnen und Schüler der Theater-AG im Anschluss an die Aufführung Marie Kaiser dankend mit einem Blumenstrauß. Frau Kaiser hatte die Theater-AG als Regisseurin in den letzten Jahren begleitet und trug zur ersten Organisation des diesjährigen Stücks bei. Zum Schluss rief das Ensemble zu einer Spendenaktion auf, die Jugendlichen mit Angststörungen und Depressionen helfen soll – ein berührender Abschluss eines großen Abends. 

Am Ende stand verdienter Applaus – und ein Stück, das nachwirkte. Denn: Was bleibt vom Menschen, wenn das Gesicht zur Maske wird?